Gehirn, Verhalten, Persönlichkeit
Teil 1

Hirnforschung trifft auf Verhaltensforschung
Unsere „Software“ – sei es als Bewusstsein oder Unbewusstsein – wird in einem großen Themenspektrum zwischen Psychologie und Therapie über Pädagogik, Coaching-Trends bis hin zur Managementliteratur behandelt, gehegt und gepflegt.

Wie leistungsfähig wir sind, also wie enorm groß die Datenvolumina sind, die wir unbewusst und bewusst verarbeiten, haben wir separat schon betrachtet.

Aber worauf baut diese Software?
Was sind die Bausteine und Grundfunktionen, die uns handeln lassen, die also erst „Bewusstsein“ und „Unbewusstsein“ ermöglichen und unsere Persönlichkeit ausmachen?

Ein Blick auf unsere „Hardware“ – das Gehirn
„Die Grundauffassung der modernen Hirnforschung lautet, dass alles, was wir tun, unabtrennbar mit den Strukturen und Funktionen unseres Gehirns zu tun hat (…) – und damit auch die Verankerung der Persönlichkeit im Gehirn.“ (G. Roth, Persönlichkeit und Verhalten, S. 33)

Im Rahmen der Verhaltensforschung hat sich gezeigt, dass das Verhalten und das geistige Vermögen des Menschen längst nicht so einzigartig ist, wie wir gerne meinen.
So bleiben unter dem Strich nur 2 Dinge, die uns Menschen von „den anderen Tieren“ wirklich hervorheben (siehe G. Roth, Persönlichkeit und Verhalten, S. 34):
– die Fähigkeit Handlungen mittel- und langfristig zu planen und
– die syntaktisch-grammatikalische Sprache.

Selbst das Vermögen, sich in andere hinein zu versetzen, ist ebenso bei unterschiedlichsten Tieren (wie Vögeln, Elefanten, Walen oder Delfinen) entwickelt – vergleichbar bis zu dem Entwicklungsstand eines 3-4jährigen Kindes.

Die geistige Überlegenheit des Menschen scheint daher auf einer einzigartigen Kombination von Merkmalen zu beruhen:
einer sehr guten Handlungsplanung, bewusstem Denken, Kooperativität und Sprache (G. Roth, Persönlichkeit und Verhalten, S. 35).

Woher kommt das – also was ist die Basis dafür?
Schauen wir dazu genauer auf die Physiologie, also die Strukturen, die Funktionsweise und den Aufbau unseres Gehirns.


Aufbau und Verbindungen – hilfe, ich lerne…
Unser Gehirn besteht aus Nervenzellen, die hirneigene elektrische und chemische Signale aufnehmen und abgeben – und die in einem System der Informations-Verarbeitung miteinander verwobenen sind.

Die Signale erhalten die Nervenzellen über die Sinnesorgane und geben sie über Muskeln, Haut und Drüsen wieder ab. Die elektrische Informationsverarbeitung ist dabei die schnelle und einfache, die chemische die langsame und komplexe Verarbeitung. (G. Roth, Persönlichkeit und Verhalten, S. 54)

Nervenzellen besitzen dabei Eingangsstrukturen (sogenannte Dendriten) über die sie Erregungen aufnehmen und Ausgangsstrukturen, die aus langen, dünnen Nervenfasern bestehen (Axone genannt).
Die Kontakte zwischen Nervenzellen finden über Synapsen statt. Jede Nervenzelle ist über diese Synapsen mit abertausenden anderen Nervenzellen verbunden, die entweder rein elektrisch oder kombiniert elektrisch-chemisch funktionieren.

Im einfachsten Fall wird das von einer Zelle kommendes Signal unverändert an die nachgeordneten Zellen weitergegeben.
In viele Fällen aber ändern die Synapsen ihre Übertragungseigenschaften dabei – und haben damit Verstärkungs- oder Filtereigenschaften.

Unter bestimmten Umständen verändert sich dabei die Verknüpfungsstruktur zwischen den Zellen.
Diese Vorgänge verändern dann auch die Funktion der Netzwerke – sei dies durch Wahrnehmung, beim Denken, bei der Gedächtnisbildung, bei Gefühlen oder bei der Handlungs- oder Bewegungssteuerung. Die Strukturen ändern sich: wir lernen. (G. Roth, Persönlichkeit und Verhalten, S. 56)


Effizienz: Ausreifung in Schüben, Eliminierung und der Bau von Datenautobahnen
Wichtig für die Funktion des Gehirns ist also nicht nur die Bildung der Nervenzellen, die beim Menschen bereits bei der Geburt im wesentlichen abgeschlossen (!) ist, sondern vor allem die Ausbildung von Dendriten und Axonen.

Diese Ausbildung beginnt ca. ab dem 5. Schwangerschaftsmonat, steigt mit der Ausbildung von Dendriten nach der Geburt noch einmal massiv an, und wird mit ca. dem 1. Lebensjahr maximal erreicht.
Anschließend geht die Anzahl der Synapsen wieder zurück – und das stabile erwachsene Niveau wird durchschnittlich zur Pubertät erreicht.

Das Hauptprinzip der Entwicklung der Verknüpfungsstruktur besteht darin, dass anfänglich viel mehr Synapsen ausgebildet als später gebraucht werden. Das heisst, es findet zuerst eine Überproduktion und dann eine drastische Reduktion statt. (G. Roth, Persönlichkeit und Verhalten, S. 58).
Man nimmt an, dass es zu einem Konkurrenzkampf zwischen den Milliarden von Synapsen kommt, der um Nährstoffe und auch um neuronale Reize geführt wird.
Bei der „Versorgung“ spielen dabei sowohl intern generierte, als auch aus der Umwelt stammende Reize eine große Rolle: erhält eine Synapse zu wenig davon, stirbt sie ab.

Zu Beginn unseres Lebens sind also diffuse, synaptische Verknüpfungen angelegt, die dann durch den Konkurrenzkampf reduziert werden – und damit das jeweilige Netzwerk effizient gemacht wird. (G. Roth, Persönlichkeit und Verhalten, S. 59)

Ein weiter Faktor der Bildung der Struktur im Gehirn ist die Myellinisierung von Nervenfasern.
Hierbei bildet sich um ein Axon eine Myellinscheide aus. Diese ermöglicht eine deutliche (z.T. hundertfach) schnellere Fortleitung von Aktionspotenzialen – ohne die unsere hohe kognitive Leistungen nicht möglich wären. Es entstehen quasi „Glasfaserkabel“ im Gehirn auf vielgenutzten Bahnen. Was parallel an Bahnen nicht grundsätzlich genutzt oder bedient wird, wird kosequent gelöscht.
Diese Myellinisierung beginnt bereits vor der Geburt und findet erst mit dem Erreichen des Erwachsenenalters allmählich ein Ende. (G. Roth, Persönlichkeit und Verhalten, S. 60)

Das heisst, das Gehirn eines Neugeborenen besitzt bereits alle Furchen und Windungen des ausgereiften Gehirns. Die gewaltige Massezunahme bis zum Erwachsenenalter geht dann vornehmlich auf das Längenwachstum der Dendriten und die Myelinisierung der Axione – und der Blutgefäße zur Versorgung – zurück. (G. Roth, Persönlichkeit und Verhalten, S. 61)
Jeder von uns hat diese individuelle Entwickung gemacht. Bei jedem Kind ist sie zu sehen.
Reize, Vorlieben und Erfahrungen prägen die angelegten Netzwerke in unserem Gehirn, die wir dann später aufbauen und ausbauen.
Entsprechend der anatomischen Entwicklung reifen auch die Sinnessysteme zu unterschiedlichen Zeiten aus.

Zusammengefasst gilt, dass das System zur Verhaltenssteuerung (= im limbischen System) sich bereits frühgeburtlich ausbildet.
Das Bewusste Ich ( =getragen durch das corticale System) reift hingegen erst nach der Geburt und dann bis ins Jugendalter.
Abschließend findet in der Pubertät – auf etwas niederem Niveau – der Prozess der Überproduktion und Elimination ein drittes Mal statt.
Die anatomische Entwicklung des Gehirns und die Dynamik der „Verdrahtung“ verläuft also in Schüben, und in diesen 3 Phasen ist das Gehirn besonders empfindlich und prägsam gegenüber Umwelteinflüssen.

Neben der Ausbildung und zeitlichen Festigung der Strukturen im Gehirn hat die Forschung festgestellt, dass grundsätzliche Funktionen im Gehirn an festen Orten verankert liegen. Diese sind evolutionär verortet und werden in der persönlichen, individuellen Entwicklung auf- und ausgebaut.

Daher folgt im nächsten Blog ein weiterer Blick auf diese Orte und Ebenen im Gehirn des Menschen.


Einzigartig stark:
Module, vernetzt und redundant
Es gibt heute keinen Zweifel mehr daran, dass es im Gehirn anatomisch eng umgrenzte Areale gibt, die ebenso eng umgrenzte Funktionen haben. Man spricht deshalb von „strukturell-anatomischen Modulen“ und vom modularen Aufbau des Gehirns und seiner Funktionen.

Komplexe Abläufe (wie das Sehen, Hören, Handlungsplanung, Furcht oder Gedächtnis) beruhen dabei aber immer auf gleichzeitigen oder aufeinander folgenden Aktivitäten von vielen einzelnen Zentren.
Hinzu kommt, dass die lokalisierbaren Areale und Kerne häufig funktionale Überlappungen mit anderen Kernen und Arealen haben.

Das Gehirn ist damit in vieler Hinsicht redundant. Und genau dies ist die Grundlage der großen funktionalen Plastizität, also der Veränderbarkeit. Und bildet die Überlegenheit des menschlichen Gehirns. (G. Roth, Persönlichkeit und Verhalten, S. 89)