Verhaltensökonomik Teil 2
Die Physiologie des Gehirns: Der Aufbau in 4 Ebenen
Eng umgrenzte Areale, mit ebenso eng umgrenzten Funktionen liegen grundsätzlich dem Aufbau des Gehirns zugrunde. Gleichzeitig finden sich aber funktionale Überlappungen – Dopplungen bzw. Redundanzen – so dass man vom modularen Aufbau des Gehirns spricht.
Diese „Multi-Zentralität“ der Gehirnfunktionen (wie unter Teil 1) beschrieben, findet sich auch beim Phänomen der Persönlichkeit wieder: das heisst, praktisch das gesamte Gehirn ist an der Bildung der Persönlichkeit beteiligt.
Mit einer gewissen Vereinfachung lassen sich 4 funktionale Gehirnebenen unterscheiden, auf denen die unterschiedlichen Komponenten der Persönlichkeit angesiedelt sind.
Diese machen uns als Mensch so unglaublich vorhersagbar und ähnlich (dass wir in Sinus-Studien in Typen geclustert werden können und neuerdings in der Psychometrik sogar individuell steuerbar werden) – aber gleichzeitig auch so einzigartig und unberechenbar in unserer Persönlichkeit.
Die vegetativ- affektive Ebene als Kern und unterste Ebene
Sie entsteht von allen Ebenen (ab der 7. Schwangerschaftswoche) am frühesten. Die Vorgänge auf diese Ebene sichern (über die Kontrolle des Stoffwechselhaushalts, des Kreislauf-, Verdauungs- und Hormonsystems und des Wachens und Schlafens und der damit verbundenen Bewusstheitszustände) unsere biologische Existenz.
Ebenso werden durch diese Ebene die spontanen Verhaltensweisen und Empfindungen wie Angriffs- und Verteidigungsverhalten, Paarungsverhalten, Flucht- oder Agressionspotiential gesteuert.
Kurz gesagt: die von dieser Ebene ausgehenden Antriebe und Affektzustände bilden unser stammesgeschlichtliches Erbe. Wir teilen diese Triebe mit allen Primaten und darüber hinaus mit allen Säugetieren. Die hier angelegten Funktionen – und man kann diese affektiven Grundzustände quasi auf Knopfdruck auslösen – bestimmen in ihrer individuellen Ausformung das Temperament und die individuelle, grundlegende Triebstruktur jedes Menschen.
Wichtig hier: dieser Teil des Gehirns hält unseren Körper am Leben, auch wenn alle anderen Kontrollzentren ausfallen.
Er ist weitgehend genetisch bedingt und durch Erfahrung oder willentliche Kontrolle nur wenig beeinflussbar.
Die zweite, darüber liegende Ebene der emotionalen Konditionierung
Diese Ebene ist mit der erfahrungsabhängigen Verknüpfung negativer oder neuartiger Ereignisse mit Gefühlen der Furcht, Angst oder Überraschung befasst.
Auf der einen Seite lernen wir über die Amygdala gesteuert und meist unbewusst, wovor wir uns fürchten und in Acht nehmen müssen. Grundlage der Konditionierung ist die Vernüpfung mit den Sinnesorganen und Informationen über den Körper und Umwelt, die nach gut/ oder schlecht, positiv oder negativ bewertet – und entsprechenden Gefühlen! – fest verbunden werden.
Interaktionspartner und gleichzeitig Gegenspieler zur Amygdala ist das mesolibische System, das Lustgefühle auslöst und uns nach Spass, Freue und Lust streben lässt. Es ist Teil unseres Motivationssystems, weil es über die Funktion der Belohnungseinschätzung und Belohnungs-Erwartung auch ein Teil des Belohnungssystems anspricht.
Wichtig hier: dieser Teil des Gehirns entwickelt sich ebenso recht früh, ist aber im Gegensatz zur 1. Ebene durch Erfahrungen beeinflussbar.
Dieser Einfluss findet entweder durch plötzliche starke emotionale Ereignisse statt oder durch langsame, aber stetige Einwirkungen.Diese sogenannten emotionalen Konditionierungen sind wiederum nur durch emotionale Erfahrungen zu korrigieren. Also nicht durch Belehrung oder Einsicht. Und dies nur im Rahmen unseres individuellen Temperaments – und durch die Zufälligkeiten im Leben mit einen sehr, sehr großen Spielraum.
Diese zwei Ebenen repräsentieren gemeinsam die unbewusste Grundlage unserer Persönlichkeit und des Selbst.
Darüber liegen (nebeneinander) zwei weitere Ebenen.
Die individuell-soziale Ebene
Diese dritte Ebene umfasst die libischen Areale der Großhirnrinde: hier treffen Faserbahnen aus allen limbischen Zentren zusammen und die hier weitergeleiteten Informationen können damit bewusst werden.
Umgekehrt ziehen von hier Faserbahnen zurück in die limbischen Systeme, die überwiegend hemmende und zügelnde Funktionen haben.
Es geht auf dieser rechtshemisphärischen Ebene generell um die Steuerung vom Sozialverhalten, Einschätzung von Konsequenzen des eigenen Verhaltens, um die Steuerung von Aufmerksamkeit und um Schmerz- und Verlustbewertung.
Hier ist die emotionale Gesichtererkennung (als Grundlage der Empathie) verortet, ebenso wie die Verarbeitung komplexer sozialer Signale und Geschehnisse. Wir verorten an dieser Stelle des Gehirns ebenso die sozialen Spielregeln, das Prinzip von Geben und Nehmen aber auch die Impulshemmung.
Auf dieser Ebene geht es allgemein um unser Gefühlsleben. Hier ist die Grundlage unserer bewussten, individuellen Ich-Existenz und damit auch der entscheidende (und einzige) Einflussort von Erziehung.
An dieser Stelle ist das Lernen verortet, uns den Bedingungen der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt anzupassen.
Diese Ebene ist wesentlich dynamischer als die Ebenen darunter – und auch im späten Leben sind wir in der Lage, uns in unserem Verhalten immer wieder an eine neue Umgebung anzupassen.
Die kognitiv-kommunikative Ebene
Den genannten drei Ebenen steht eine weitere Ebene gegenüber, die über einen langen Zeitraum bis ins Erwachsenenalter hinein entsteht.
Sie umfasst das Arbeitsgedächtnis, den Verstand und die Intelligenz. Ebenso gehören zu diesem Teil die verschiedenen Sprachzentren.
In dieser linken Hemisphäre sind alle Areale angesiedelt, die das verstandsbegleitete Umgehen mit sich selbst und der Umwelt betreffen. Darunter gehört z.B. die Fähigkeit zum Problemlösen, dem Erkennen von Schriftzeichen, Geometrie und Mathematik.
Diese 4. Ebene entwickelt sich parallel zur Vorhergehenden, nur schneller: bereits Kinder können schon sehr intelligent sein – während ihr Gefühlsleben und ihre Sozialisation noch gering ausgebildet ist.
Diese Trennung von Verstand und Vernunft (bzw. sozialen Gefühlen) erst ermöglicht uns, Mitleid und Anteilnahme auszudrücken. Wir können uns Anderen so präsentieren, wie wir gesehen werden wollen – und nur dies ermöglicht ein gesellschaftliches Zusammenleben.
Ein weiterer Vorteil der Trennung von Verstand und Vernunft ist, vorausschauend planen zu können, und uns vorzustellen „was wäre wenn…“.
Diese vierte Ebene ist die am meisten dynamische und veränderbare Ebene. Wir können uns sehr schnell Wissensinhalte aneignen und in der Art unserer Kommunikation schnell an unterschiedlichste Situationen anpassen. Das macht uns (kurzfristig und oberflächlich) sehr flexibel.
Damit ist aber umgekehrt die Wirksamkeit auf andere auf dieser Ebene aber auch begrenzt: „Das eine ist, was ein Mensch sagt. Das andere, was ein Mensch fühlt und tatsächlich auch tut.“
Reden ist etwas anderes als Fühlen und Handeln.
Die ersten beiden Ebenen bilden das unbewusste Selbst und damit die unbewusste Grundlage der Persönlichkeit. Und diese Ebene bleibt ein Leben lang egoistisch-egozentrisch und stellt immer die Frage „Was habe ich davon“ und ist, so Roth, „das Kleinkind in uns“. (G. Roth, Persönlichkeit und Verhalten, S. 92f.)
Die oberen beiden Ebenen Verstand und (soziale) Vernunft sind weniger miteinander verknüpft als die unteren Ebenen. Und dies auch wesentlich weniger als man erwarten würde.
Was noch erstaunlicher scheint: „die kognitiv-kommunikative Ebene ist am Weitesten von der Persönlichkeit und von der Handlungssteuerung entfernt.“ (G. Roth, Persönlichkeit und Verhalten, S. 95).
Es gibt hier überraschend wenig funktionale Verbindungen, obwohl beide Ebenen eng benachbart sind.
„Wir stoßen hier auf eins der merkwürdigsten Dinge der menschlichen Persönlichkeit, nämlich das mögliche Auseinanderfallen von Verstand und Vernunft. Diejenigen Hirnzentren, die für Verstand und Intelligenz zuständig sind, haben mit denjenigen Zentren, die unsere soziale Vernunft steuern, wenig Kontakt. Ein intelligenter Mensch muss nicht vernünftig sein.“ (G. Roth, Persönlichkeit und Verhalten, S. 101)
Wer würde dem nicht zustimmen.
Das Modell von G. Roth beendet die Diskussion um „Anlage“ versus „Sozialisation“ bei der Persönlichkeit des Menschen. Unsere Persönlichkeit ergibt sich durch eine Wechselwirkung der 4 genannten Ebenen. Diese Faktoren durchdringen einander und sind, wenn überhaupt, nur schwer methodisch voneinander zu trennen. „Wir sind genetisch, entwicklungsmäßig, in unserer Prägung und unserer Sozialisation einmalig.“ (G. Roth, Persönlichkeit und Verhalten, S. 105) – aber darin sehr, sehr ähnlich.
Und mit dieser Feststellung haben wir nun final das Feld der Verhaltensökonomen betreten: zu verstehen, wie wir Menschen grundsätzlich funktionieren.
Damit wir auch persönlich unsere individuellen Vorurteile und Neigungen bewusster wahrnehmen können. Und damit bessere Entscheidungen für uns, im Zusammenleben und insbesondere im beruflichen Kontext treffen können.
Wer bin ich und wenn ja wieviele.
Der Aufbau und die Funktion unseres Gehirns zeigt auch von der Neurobiologie her, was wir bereits in der pädagogischen wie auch in der Coaching-Literatur nachlesen können:
Persönlichkeitsmerkmale von Menschen lassen sich in ähnlichen Faktoren beschreiben und zeigen.
ICH bin dabei aber eine Facette an Einflussgrößen – wie sie durch die „Big Five“ (Asendorpf, Neyer: Psychologie der Persönlichkeit), durch das „innere Team“ (Schultz von Thun) oder die „heimlichen Begleiter“ (Corssen) bezeichnet werden. Oder der oben zitierte Buchtitel sagt.
Wir sind eine Summe an Persönlichkeit – und je nach Situation kommen Facetten zum tragen, die wir an uns mögen oder nicht leiden können. Immer sind wir aber – in Summe – in unserer Individualität beeinflussbarer und berechenbarer als wir es gerne hätten. Unser Bewusstsein macht eine Einheit daraus und glättet Unstimmigkeiten – dazu findet sich Vielfältiges unter dem Punkt (Un)Bewusstsein in diesem Blog.
Dies zu akzeptieren und für sich persönlich zu nutzen kann ich warm empfehlen.
Der kurze Schritt zur Psychometrie
Mit den neuesten Ergebnissen zur Psychometrie (- siehe den Artikel zur Wahl von D. Trump (https://www.dasmagazin.ch/2016/12/03/ich-habe-nur-gezeigt-dass-es-die-bombe-gibt/) -) wird nun die Verknüpfung dieses Wissens mit den Big Data in seiner gesamten Bandbreite deutlich.
Wer Angst hatte vor dem „gläsernen Verbraucher“ oder der „Manipulation durchs Marketing“ wird einer neuen, unabsehbaren Dimension der externen Beeinflussung belehrt.
Womit ich auf die Blogs hier zum Thema Information und Kommunikation verweisen möchte.
Mit dieser Basis haben wir vielleicht noch eine Chance, uns menschlich und intelligent als Verbraucher dieser Entwicklung entgegen stellen zu können.