Bewusstsein und Sprache
Bemerkenswert ist, dass das Gehirn sehr viel Information mit großer Bandbreite empfängt – ca. 11 Millonen bit, wie Untersuchungen ergeben haben. Und dass Gehirn darüber hinaus auch noch in der Lage ist, sehr viel mehr Information zu verarbeiten, als es aufnimmt: es versorgt den Körper mit ungefähr noch einmal so viel Information, wie es aufnimmt. Die Forschung nennt Zahlen bis 10 Milliarden bit pro Sekunde. (Nørretranders, S. 213)
Nur erhält das Bewusstsein eben keine Kenntnis darüber.
„Den größten Teil unseres Erlebens können wir gar nicht mitteilen. Mitteilen können wir nur, was uns bewusst ist. Man kann nur hoffen, dass es das Wichtige ist.“ (Nørretranders, S. 215)
Verstehst du mich – Der Baum der Rede zum Dritten
Wir alle erfahren im täglichen Umgang miteinander, dass wir mittels der Sprache andere Menschen oft nur begrenzt an unseren Gedanken teilnehmen lassen (können).
„In unserer bewussten, sprachlichen Gemeinschaft sind wir alle in einer radikalen Einsamkeit befangen.“ (Nørretranders, S. 215)
Der Baum der Rede ist der Versuch von Nørretranders, dies deutlich zu machen.
Das Gespräch selbst vollzieht sich mit geringer Bandbreite, während die mentalen Vorgänge und Sinneswahrnehmungen mit extrem großer Bandbreite stattfinden. Die Kompression ist bereits notwendig, ehe überhaupt Bewusstsein vorhanden sein kann (Nørretranders, S. 216).
Aber unser Körper drückt viel aus, das in Worten nicht notwendiger Weise enthalten ist. Dies kennen wir alle von Kindesbeinen an:
Erzähl mir eine Geschichte!
Kinder lieben Geschichten. Und Wiederholungen. Nicht, weil sie viel Information darin spüren, sondern weil Wiederholung ihnen ermöglicht, die ganze Vielfalt des Textes zu verstehen: das Aufblättern von Exformation, das Vorstellen und echte Erleben der Geschichte im Kopf. „Sie können immer wieder neu erschließen, was sich im Inneren der Geschichte abspielt.“ (Nørretranders, S. 217)
Durch Geschichten werden Begriffe im Gehirn trainiert. Das Kind erlernt Grundabläufe, die Bedeutung von Helden und Schurken, von Spannung und Auflösung. Information verwandelt sich in Exformation, der Wortlaut des Textes wandelt sich in die innere Exformation des Vorlesers.
Ein Kind erlernt damit nicht nur den semantischen (sprachlichen) Kanal, und in sein Gehirn gelangen nicht nur die Wörter und ihre Aussprache. Es erfährt den gesamten körperlichen Ausduck eines Vorlesers, Mimik und Tonfall. All das sagt ihm, wie der Erwachsene die Geschichte erlebt.
„Vorlesen hat nichts mit Wörtern allein zu tun, sondern mit dem, was Wörter mit Menschen machen. Ein Konzert erleben hat nichts mit der Musik allein zu tun, sondern mit dem was Musik mit dem Menschen macht. Zum Fussball gehen hat nichts mit Fussball allein zu tun, sondern was Fußball mit den Menschen macht.“ (Nørretranders, S. 219)
Es gibt eben noch andere Kommunikationskanäle als den Sprachlichen, den Kanal des Bewusstseins, mit seiner geringen Bandbreite.
Wuff – Angriff oder Verteidigung
Will man wissen was das Bellen eines Hundes bedeutet, wird man ihn anschauen.
Man schaut auf seine Lefzen, seine Nackenhaare, seinen Schwanz. Diese „expressiven“ Teile sagen einem, welches Objekt in der Nähe er anbellt und welchem Muster er voraussichtlich in den nächsten Sekunden folgen wird. Vor allem schaut man auf seine Sinnesorgane: Augen, Ohren, Nase. Bei allen Säugetieren werden die Sinnesorgane (zum Aufnehmen, nach innen) auch zu Organen für die Übertragung von Mitteilungen (nach außen).
„Wir Menschen haben allerdings ein Problem: wir wollen nicht zugeben, dass wir Tiere sind.“ (Nørretranders, S. 220)
Die Sprache ist eine ist eine sehr junge Errungenschaft der Evolution und in unserer biologischen Entwicklung. Und ehe es wichtig wurde, ob sich jemand gebildet ausdrücken kann, war es wichtig zu erkennen, wie er sich verhalten würde. Freund oder Feind? Angriff oder Verteidigung? (Nørretranders, S. 223) Diese Fähigkeit begleitet uns bis heute.
Erschwerend glauben wir intuitiv, unser Bewusstsein sei identisch mit uns selbst. Wir neigen deshalb zu der Annahme, das das, was wir sagen, ausschließlich in den Worten liegt. Wir nehmen uns selbst sehr wörtlich.
Das eigentliche Drama ist, dass die Sprache des Körpers viel mehr sagt, als die der Rede. „Die Vorstellung, wesentliche Anteile unserer Persönlichkeit existieren jenseits unserer eigenen Aufmerksamkeit, seien aber für alle anderen vorhanden und sichtbar, erscheint erschreckend.“ stellt der Anthropologe Edward T. Hall fest.
„Das Unbewusste ist niemandem als nur der Person selbst verborgen (…)“ fasst Nørretranders den Sachverhalt schlicht zusammen (Nørretranders, S. 223):
Andere wissen mehr über uns, als wir selbst: ihnen sind über unser Körpersprache die Millionen bit per Sekunde zugänglich, die nicht in unser Bewusstsein gelangen. (Nørretranders, S. 223)
Unser Bewusstsein ist begrenzt und wir kommunizieren (und transportieren unsere Informationen) über weit mehr als nur über Sprache. Exformation ist die Tiefe und Bedeutung einer Aussage – und sie wird unfreiwillig und unbewusst über vielfache Kanäle transportiert.
LOL, MSN & Co.
Es ist meist wichtiger zu verstehen, was im Kopf eines Menschen vorgeht, als die Worte zu verstehen, die er sagt. Die bewusste Sprache verwaltet nur einen sehr geringen Teil von dem, was in einer sozialen Situation enthalten ist. Und es ist, wie wir schon mehrfach gesehen haben, viel Information aussortiert worden, ehe man zu verbalen Informationen kommt.
Versteht man anders herum gerade das Aussortierte nicht, wird man ausgelacht. Jugendliche machen sich lustig über Andere, die ihren Code nicht verstehen – also die Exformation in der Information nicht verstehen (können).
Was bedeutet LoL, was ist eine MSN? Fragen über Fragen. Die, alleine und ohne Erklärung, nicht mit der situativ richtigen Bedeutung zu füllen sind. Man ist und bleibt ausgegrenzt, wenn man auf die explizit ausgesonderte Information nicht zugreifen kann.
Neue Mitarbeiter in der Branche oder in der Firma müssen zuerst – und möglichst schnell – die Sprache und die verwendeten Abkürzungen lernen. Friktionen und Restriktionen zwischen Gruppen Abteilungen, Branchen beginnen bei Exformation, die man als Aussenstehender nicht adäquat rekonstruieren kann.
Im Beruflichen hat man meines Erachtens eine gute Chance, über Regeln, feste Bezeichungen (und gemeinsame Definitionen/Glossare) eine solide Kommunikationsbasis mit wenig Reibungsverlust zu schaffen. Wie dies entsteht, die Auswirkungen und Lösungen, werden wir in einer neuen Blog-Serie zur Funktion des Gehirns (und der Auswirkung auf gegenseitiges Verstehen, Projektarbeit und Coaching) betrachten können.
In eigener Sache
Es war mir wichtig, über Information, Exformation, unsere Bandbreite des Bewusstseins und unsere Möglichkeiten der Kommunikation zu schreiben. Ich habe nun die Begriffe sauber aus der Forschung heraus definiert, wir haben die erste, genannte Basis. Zum Abschluss noch mal zum Anfang dieser Blogserie zurück.
Der Satz „Ich lüge“ zeigte schon 1931, dass manche Sachverhalte nicht zu beweisen sind. Dass man erst weiß, dass es eine Lösung gibt, wenn man sie gefunden hat. Egal wie groß die Rechnerkapazität ist. Die Welt lässt sich nicht im Netz der Sprache bewusst fassen.
Die formalen Systeme heute geben aber vor, sie könnten alles beschreiben. Das können sie sicher. Aber nicht das Wissen kostet – sondern das Vergessen. Das Reduzieren auf das Wesentliche.
Jede Sprache, jede Beschreibung, jedes Bewusstsein ist also ein Resultat von Exformation. (Nørretranders, S. 229)
Es basiert auf einem Bewusstsein des Menschen: auf explizit Aussortiertem, auf das man verweist, wenn man etwas sagt. Auf den Kontext, den man weggelassen hat. Ansonsten ist es nur bla-bla. Ohne Tiefe, ohne Bedeutung.
Uns umrauscht in der „Informationsgesellschaft“ nur pure Information – nicht Komplexität, Tiefe und Bedeutung. Grenzenloses Bla-bla, das uns Entscheidungen erschwert, unendliche Auswahl vorspielt, wo kurze Entscheidungen zu treffen sind.
Man kann nur noch schwer nicht „nicht“ kommunizieren in unserer heutigen Zeit.
Wir sind uns im Zwischenmenschlichen kaum bewusst, welche Kommunikationskanäle wir gegenseitig nutzen und verstehen.
Und unsere Kommunikation hat zuletzt mit den Smartphones einen neuen, weiteren Kanal dazu bekommen: Es gibt nun kein Wegduken mehr, kein „dieser Teilnehmer ist gerade nicht zu erreichen“.
Wir leben in einer immer komplexeren Welt, und den Umgang mit Information und Exformation müssen wir bewusst erkennen. Wir müssen lernen, Entscheidungen in den Zeiten unbegrenzter Information „ohne Reue“ zu treffen (siehe Kahneman, S. 426 ff), die Funktionsweise unseres Gehirns zu akzeptieren und zu nutzen, um entspannt und gutgelaunt durchs Leben zu gehen.
Verhaltensökonomik ist der (neue) Begriff genau dafür.
Dazu dann mehr in einem späteren Blog zu Komplexität, der Funktionsweise unseres Gehirns und den Möglichkeiten, „richtige“ Entscheidungen zu treffen.